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Sgraffito: Krat­zen für die Ewig­keit

Sgraffito kann mehr als nur Engadiner Häuser zieren. Seine Vielseitigkeit und die lange Haltbarkeit sind auch für heutige Anwendungen attraktiv. Technisch möglich wird dies durch zeitgenössische Putze, die traditionell verarbeitet werden.

Sgraffito wird hierzulande praktisch gleichgesetzt mit dem Bautyp des historischen Engadinerhauses. Tatsächlich handelt es sich beim Sgraffito – der Name stammt vom italienischen «(s)graffiare» = ritzen, kratzen – um eine jahrhunderte­alte Technik, die auf der handwerklichen Bearbeitung von Kalkmörtel beruht und in ganz Europa verbreitet ist, teilweise unter anderem Namen oder in einer verwandten Anwendungsweise. In die Schweiz gelangte sie in der Renaissance via Italien und setzte sich hier vor allem im Engadin durch.1

Zum einen lag das an den engen Handelsbeziehungen, zum anderen eigneten sich das trockene Klima sowie die zahlreichen Kalkvor­kommen und deren bereits etablierte Nutzung für die Technik. Zum Erfolg trug aber auch der Bautypus des traditionellen Engadinerhauses bei. Während Sgraffito in Italien vor allem städtische Bauten zierte, trans­formierte es die Wirtschafts- und Wohngebäude der Engadiner Bauern zu repräsentativen Bauten. Deren grossflächige asymmetrische Fassaden, die sich aus der Kombination von Struktur und städtebaulicher Konstellation ergaben, liessen sich mittels Sgraffito gliedern.2

Dazu kam die Konstruktion: Die unregelmässigen Bruchstein- und Strickbauwände wurden mit einer dicken Kalkputzschicht überzogen, die tiefen, abgeschrägten Fensterlaibungen mit weisser Kalktünche betont. So fügten sich hier Fassadengestaltung und Architektur zu einem markanten Bautyp zusammen, dessen Bildhaftigkeit durch Illustrationen in Kinderbüchern wie dem «Schellen-Ursli»3 und durch den ­tradierten Formenkatalog ins kollektive nationale Gedächtnis eindrang und auch heute noch wirkt.

Handwerk, Kunst, Kunsthandwerk
Für das Engadin typisch sind die grafischen Hell-Dunkel-Motive. In anderen europäischen Regionen ­setzten sich auch mehrfarbige Sgraffiti durch, vor allem ab dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. So sind reich geschmückte Jugendstilfassaden aus Österreich bekannt, in Deutschland oder in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion findet man ab den 1930er-Jahren oft politisch angehauchte Motive.

Der Basisaufbau für ein Sgraffito besteht aus einem mindestens 20 mm dicken Grundputz, der Un­ebenheiten des Mauerwerks ausgleicht und eine flächendeckende Haftung gewährleistet. Darüber folgt ein dunkler mineralischer Putz als Kratzgrund. Früher wurde für die Färbung Russ oder Holzkohle verwendet, heute sind es Pigmente. Anschliessend trägt man eine helle Kalkschlämme «al fresco» auf, also solange der Verputz noch feucht und im Abbinden begriffen ist. Sie ist die eigentliche Kratzschicht. Bei bunten Motiven sind es mehrere verschiedenfarbige Schichten.

In die oberste Schicht wird das Motiv als Vorriss geritzt, anschliessend kratzt man die feuchte Kalkschlämme als Linie oder Fläche heraus, sodass der dunkle Grundputz an die Oberfläche tritt und ein leichtes Relief ­entsteht. Als Kratzwerkzeug kann ein einfacher Nagel dienen. Bei mehrfarbigen Sgraffiti ist die Technik schwieriger, da der Bildaufbau umgekehrt werden muss: Zuerst werden die Details angelegt, die Umrisse werden erst zum Schluss sichtbar.

Das eigentliche Kratzen oszilliert je nach Ausführendem und Anspruch zwischen Kunst und Handwerk. So gibt es Motive, die mit dem Zirkel vorgeritzt sind, oder sich wiederholende Formen, die mittels Schablonen aufgetragen werden. Daneben gab und gibt es aber auch immer die freien Zeichnungen, die poetische Motive wie Fabelwesen oder auch künstlerische Interpretationen zum Thema haben, wie man sie aus den 1930er- bis 1960er-Jahren kennt, sowie die typischen Sinnsprüche der Engadinerhäuser. Die Ausführenden waren und sind dementsprechend sowohl Handwerker als auch Künstler, die neben den traditionellen Motiven auch eigene Bildwelten realisieren.

Text: Tina Cieslik, Redaktorin TEC21

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 51-52/2018. Sie finden ihn auch auf espazium.ch

 

Anmerkungen

1 Die Angaben zur Sgraffitogeschichte und -technik beruhen auf der Publikation «Sgraffito – eine traditio­nelle Putztechnik im Engadin» von Hartmut Göhler in: Über Putz. Oberflächen realisieren und entwickeln.
2 Die Engadinerhäuser sind gemäss der romanischen genossenschaftlichen Dorf- und Wirtschaftsorganisation jeweils zu einem Dorfplatz mit Brunnen hin orientiert. Mit ihren beiden Eingängen, dem Eingangstor in den Sulèr (Vorraum zu Stube, Küche, Vorratskammer und Scheune) und der Zufahrt zum Stall an der Stirnseite ergeben sich deshalb unregelmässige Fassadengliede­rungen. Vgl. Duri Gaudenz, «Das Engadiner Haus» in: Hans Hofmann, Unterengadin, Calanda Verlag, Chur 1982.
3 Dessen Autorin, Selina Könz (auch: Chönz), war die zweite Ehefrau des Architekten Iachen Ulrich Könz und Mutter des Künstlers Steivan Liun Könz. Beide restaurierten historische Sgraffiti im Engadin und fertigten auch eigene Werke an, darunter z. B. die Fassade des Hauses zum kleinen Pelikan an der Schipfe in Zürich

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